
Vom Flüchtling zum Berater
2015 beschloss der Familienvater Syrien zu verlassen. Seine drei Söhne sollten Chancen haben, die er selbst nicht hatte: Bildung, Frieden, Sicherheit. Der Weg dahin war schwer und hat sich doch gelohnt. Mittlerweile arbeitet er als Berater im Flüchtlingsprojekt Ute Bock. Heute erzählt er seine Geschichte.
Traum von Frieden
Als Kind war es immer schon mein Traum nach Europa zu gehen. Ich habe von einem Leben in Freiheit und Demokratie geträumt. Bei meinen ersten Schritten 2015 vom Boot in Griechenland hatte ich dennoch Angst: Was kommt jetzt? Was mache ich in Europa? Lerne ich die schwierige Sprache schnell genug? Wie geht es mit meiner Familie weiter? Wie geht es mit mir weiter?
Ich hatte ein großes Ziel: Meine Familie soll in Frieden und Sicherheit leben. Meine Söhne waren damals 2, 5 und 7 Jahre alt. Für sie wollte ich ein besseres Leben, eine Chance auf Sicherheit und Freiheit. Für sie bin ich voraus nach Europa gegangen. Die zwei Jahre, in denen ich meine Kinder und Frau nicht sehen konnte, waren sehr schwer für mich. Es hat Monate gedauert, bis mein Jüngster mir nach dem Familiennachzug wieder vertraut und mich als Papa gesehen hat.
Zu Fuß durch Europa
Doch der Fluchtweg durch Europa wäre viel zu gefährlich mit Kindern gewesen. Ich bin wochenlang zu Fuß gegangen – jeden Tag. Zwischen Serbien und Mazedonien mussten wir uns tagsüber vor der Polizei verstecken und nachts vor kriminellen Gruppen, die uns schikaniert haben und bestehlen wollten. In unserer Gruppe war auch eine Frau dabei. Wir hatten alle Angst um sie und haben immer gut aufgepasst, dass sie in der Mitte war. Man muss immer wachsam sein und die Augen in jede Richtung offen halten, weil man nie weiß, woher die nächste Gefahr kommt.
Wir waren das letzte Stück in einer Box in einem LKW eingeschlossen. Es waren Kinder und Frauen dabei. Wir hatten alle Angst zu ersticken. Also habe ich mit dem spitzen Teil meiner Gürtelschnalle ein Loch in die Wand der Box gemacht. Nur so konnten wir Luft kriegen und haben den Weg bis nach Österreich überlebt.
Angekommen in Österreich
Beim Aussteigen habe ich nur Natur gesehen. Das war mein erster Eindruck von Österreich: Grün. Die Natur ist einfach wunderbar. Mein Stresslevel ist das erste Mal runtergefahren und ich konnte durchatmen.
Die erste Zeit war sehr schwer: In Traiskirchen herrschte ein großes Durcheinander und es war sehr voll. Teilweise ist mit uns Ankommenden nicht gut umgegangen worden. Das Camp hat sich angefühlt wie ein Gefängnis. Das hat mich sehr gewundert, denn ich dachte in Europa werden alle Menschen mit Respekt behandelt.
Während des Asylverfahrens konnte ich bereits in einem Hotel an der Rezeption arbeiten und habe so schnell Deutsch gelernt. Anschließend habe ich zusätzlich zu meinem B1-Sprachkurs eine Fortbildung zur Sozialbegleitung gemacht und so meine ersten Schritte zurück in mein ursprüngliches Berufsfeld geschafft. Denn in Syrien war ich Berater für Krebspatient*innen in einem Krankenhaus.
Familie und Nachbarschaft
2018 konnte ich meine Familie über eine Zusammenführung auf sicherem Weg nachholen. Ich war so glücklich sie wiederzusehen und ihnen eine gute Zukunft geben zu können. Meine Kinder haben sofort im Kindergarten und der Schule begonnen. Heute gehen alle drei ins Gymnasium und bessern immer mein Deutsch aus, da sie es schon viel besser können. Für mich ist die Bildung meiner Kinder das Wichtigste. Ich habe meine Chance darauf verloren, denn ich musste mein Studium wegen dem Bürgerkrieg in Syrien abbrechen. Meinen Kindern soll es nicht genauso gehen. Egal, was sie studieren oder welche Schule sie machen wollen, Hauptsache sie machen weiter und lernen etwas Gutes.
Damals haben wir auch die ersten Kontakte zu Nachbar*innen geknüpft. Ein Nachbar hat mir geholfen, Nachhilfe für meine Kinder zu organisieren. Einmal hat eine andere Nachbarin gefragt, ob ich wirklich aus Syrien bin und ob ich denn überhaupt Händchen halten darf, denn das mache ich mit meiner Frau immer. Wir haben uns nett miteinander unterhalten und gelacht. Am nächsten Tag hat sie gefragt, ob wir einen Kaffee gemeinsam trinken wollen.
Die Leute sehen nur die Berichte in den Medien, die in eine gewisse Richtung gehen. Dann sind sie verwundert, wenn ich ihnen die Tür im Haus aufhalte oder mit den Einkäufen helfe, wenn sie ihre Kinder mit dabei und die Hände voll haben. Ich finde, die Menschen müssen viel mehr aufeinander zugehen. Ich wünsche mir, dass wir uns von Mensch zu Mensch begegnen.
Ankommen heute und damals
Als ich angekommen bin, gab es 2015 für Flüchtlinge viele Möglichkeiten: Ich konnte schon im Verfahren in der Saisonarbeit anfangen, Fortbildungen und Deutschkurse wurden angeboten. Heute ist es viel schwerer. Vieles wurde gekürzt oder ganz gestrichen. Im Ute Bock Haus betreue ich viele Menschen, die sich unbedingt integrieren möchten, aber sie dürfen nicht arbeiten, es gibt zu wenig Deutschkurse und das jahrelange Nichtstun während des Wartens im Asylverfahren belastet sie sehr. Viele verfallen in eine depressive Stimmung und kommen kaum mehr auf.
Für einen jungen Mann aus Syrien, der bei uns im Ute Bock Haus lebt, ist es besonders schwer. Er ist – wie ich – für seine Familie vorausgegangen, die im Moment in der Türkei lebt, aber auch dort nicht mehr lange geduldet wird. Seine Frau war früher Anästhesistin und sie haben zwei Kinder. Die Trennung ist sehr hart für die Familie: Er kann nicht zurück und sie können nicht weiter.
In der Türkei können Geflüchtete ihre Kinder nur sehr teuer in die Schule schicken oder gar nicht, wenn sie es sich nicht leisten können. Die Kinder sind oft ohne Betreuung, denn die Mutter muss arbeiten und den Lebensunterhalt zu verdienen. Der Vater ist nicht da. Wen treffen die Kinder draußen? Was ist, wenn eines in der Nacht krank wird? Ich kann mich in die Väter gut reinversetzen: Sie machen sich die ganze Zeit Sorgen und können doch nicht helfen. Denken immer nur an die Familie und können nichts machen.
Die Frage nach Heimat
Die österreichische Regierung hat die Familienzusammenführungen und die Asylverfahren von Syrer*innen gestoppt. Niemand hat Geduld. Die Situation in Syrien ist zwar ein bisschen besser, aber man sollte noch zuwarten, wie es wirklich weitergeht. Das Land ist noch frisch. In manchen Dörfern wurden alle Häuser ausgelöscht. Ich komme aus einem Teil in Damaskus, wo alles in Schutt liegt. Nichts gibt es mehr.
Ich verstehe, dass es in Wien wenige Schulplätze für ankommende Kinder gibt. Aber wir haben auch Salzburg, Linz, Graz – die Regierung muss besser aufteilen. Jedes Bundesland sollte einen fairen Anteil an Menschen aufnehmen. Ich wünsche mir, dass die Familien wieder zusammenkommen können – für die Kinder und die Väter auch.
Am Anfang war es auch für mich sehr schwer: Ich konnte die Sprache nicht und ich musste viel selbst lernen, da es auch damals nicht genug Kurse gab. Oft habe ich mich gefragt, warum bin ich dageblieben? Warum Österreich? Warum bin ich nicht weitergegangen? Doch wenn ich jetzt in einem anderen europäischen Land Urlaub mache, dann vermisse ich Österreich sehr. Die Natur. Das Grün. Gefühlt gehöre ich jetzt zu Österreich.
Ich wünsche mir, dass es für die Neu-Ankommenden Geduld gibt. Gebt uns ein bisschen Zeit. Gebt den Kindern Zeit. Und echte Chancen anzukommen.
Unser Kollege möchte anonym seine Geschichte erzählen. Zu viele Sorgen macht ihm die negative Stimmung gegenüber Geflüchteten und er befürchtet negative Folgen für seine Familie, wenn er offen über seine Erfahrung und Meinung spricht.